Europa und der Stier

                                                                                   „La misión de todo aficionado no es  hablar de toros seriamente, sino apasionadamente.“

                                                                                                                     (Ortega y Gasset)

 

Es geht in diesem Buch um die corrida de toros, im deutschen Sprachbereich als    „Stierkampf“ bezeichnet, eine ebenso missverständliche Übertragung wie auch im Angelsächsischen die Bezeichnung „bullfight“.  – Wer das Thema, ob nun Stierkampf oder corrida de toros genannt,  grundsätzlich ablehnt, braucht nicht weiter zu lesen. Kein Gegner soll für den Stierkampf gewonnen oder in seiner gegnerischen Position erschüttert werden. Es geht nicht darum, ihn gegen seine Kritiker zu verteidigen  und zu rechtfertigen. Ein Anliegen   dieses Buches ist es, deutlich zu machen, dass eine Befürwortung  der corrida de toros  einer ethischen Position wie der von Albert Schweitzer geforderten „Ehrfurcht vor dem Leben“   und dem Verzicht auf Willkür gegenüber der Kreatur durchaus nicht widersprechen muss.

 Nach der antiken Mythologie ist die Gestalt Europas mit dem Stier verbunden. Im kollektiven Unbewussten stellen der Stier und Europa eine Einheit dar, die sich über die  darstellenden Künste vermittelt hat.

Die deutsche Autorin möchte mit dem vorliegenden Buch dafür eintreten, dass der Stierkampf in den Regionen Europas erhalten wird, wo er  traditionell schon immer beheimatet war, aber jetzt vom Verbot bedroht ist.

Die wachsende Einheit des modernen Europa in Form der Europäischen Union könnte – so sieht es derzeit aus - die zunehmende Trennung der mythologisch-symbolischen Verbindung zwischen Europa und dem Stier zur Folge haben: Das moderne Europa, den Vorstellungen „politischer Korrektheit“ verpflichtet,  ist dabei, sich zu entmythologisieren und sieht sich zum Verzicht  auf den Stier-Kampf genötigt, gleichzeitig aber – und nicht bedacht - zum Verzicht auf  den Kampf-Stier.  

Die Autorin des Buches vertritt  die Ansicht, dass   Europa durch ein Verbot des Stierkampfs an kultureller Vielfalt verliert. Wie der französische Romancier Henry de Montherlant 1926 argwöhnt: „Man hat es darauf abgesehen, durch die Vernichtung des Stierkampfs die Einheit der spanischen Seele zu vernichten“, so fürchten die Anhänger der fiesta nacional immer wieder, dass mit der Zerstörung der Tauromachie die Kultur Spaniens zerfallen könnte. Seitens der Befürworter bemüht man sich in jüngerer Zeit um die Anerkennung der Tauromachie als Bestandteil des Weltkulturerbes. Für sie ist die fiesta de toros von der Kultur des Landes nicht zu trennen.Ginge  es nach den Vorstellungen der Vertreter „politischer Korrektheit“, so wäre die fiesta de toros innerhalb der Europäischen Union vermutlich längst verboten worden, und Europa hätte an kultureller Vielfalt und Diversität verloren.

Im Text   wird darauf verzichtet, detailliert auf die uralte Kontroverse zwischen Gegnern und Befürwortern des Stierkampfs einzugehen, wie man es in wichtigen deutschsprachigen  Neuerscheinungen der letzten Jahre, ob original oder übersetzt, immer wieder finden kann.   Das umstrittene Thema lässt keine vorurteilsfreie Diskussion zu. Abgründe trennen die Gegenspieler. Die ewig gleiche Wiederholung altbekannter Argumente macht sie für die Kontrahenten nicht überzeugender! Wer in der Tauromachie nur sadistische Tierquälerei und Brutalität zu sehen bereit ist, bleibt verschlossen für andere Meinungen. Mit  griffigen Slogans proklamieren die Gegner die für sie unversöhnlichen Widersprüche der Tauromachie: „La tortura no es arte ni cultura!“ oder „Si la tauromaquia es arte, el canibalismo es gastronomía!“

Tierschützer machen sich zunehmend in den traditionellen europäischen „Stierkampfländern“ Spanien, Frankreich, Portugal, ebenso wie in  den Ländern Mittel- und Südamerikas gegen den Stierkampf stark. Bislang ohne Erfolg.

Durch eine in Brüssel Anfang Juni 2008 getroffene Entscheidung ist der Erhalt der fiesta de toros in den Ländern Europas mit Stierkampftradition vorläufig gesichert.

Innerhalb Spaniens selbst ist derzeit die Existenz der corrida de toros besonders in Katalonien gefährdet.  Dort ist damit   zu rechnen,  dass 2010 im Parlament ein Verbotsantrag durchkommt. Einige katalanische Orte hatten sich bereits in den vergangenen Jahren zu „stierkampffreien Zonen“ deklariert, ohne nennenswerte Kontroversen damit auszulösen. Gegen ein mögliches  Ende der  fiesta de toros in Barcelona, der Stadt mit der zweitgrößten plaza de toros,    erheben sich  gegenwärtig jedoch heftige Proteste.  Das antitaurinische Klima Kataloniens entspreche nicht einer größeren Tierliebe, meinen die spanischen Befürworter der corrida de toros. Zu verstehen sei deren Ablehnung nur im Zusammenhang mit der separatistischen Politik der Katalanen und ihrem  Argwohn gegenüber dem traditionalistischen „zentralistischen Spanien“.

 Verteidigt wird die fiesta nacional zunehmend seitens einer „Internationale“ von europäischen und außereuropäischen Anhängern der Tauromachie. In den vergangenen Monaten (Stand März 2010) erfuhr die spanische „Welt der Stiere“ mediale Unterstützung z.B. seitens der „New York Times“ und „La Repubblica“, die sich detailliert mit der innerspanischen Kontroverse beschäftigten und für den Erhalt der fiesta de toros  eintraten. Auch die Artikel der deutschen  „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ tragen i.d.R. durch ihre objektive und unpolemische Berichterstattung zur Aufklärung ihrer Leser bei.

Die deutsche Autorin des vorliegenden Buches zählt sich zu dieser „Internationale“ der afición a los toros und betont mit Nachdruck, dass es keineswegs ihr Anliegen ist, Stierkampfgegnern –  antitaurinos – die  eigene befürwortende Position  verständlich zu machen oder nahe zu bringen. Genauso wenig will sie  neugierige  Leser, die sich an diese Lektüre heranwagen,  zu Anhängern der fiesta de toros bekehren.

 Um  Enttäuschungen vorzubeugen, hier noch einige Hinweise auf das, was vermisst werden könnte in einem Buch, das sich dem Thema „Stierkampf“ widmet:

Ein Lehrbuch   mit einem umfassenden Überblick über die corrida de toros ersetzt dieser Text nicht. Wer sich eine systematische  Einführung in die Tauromachie erhofft, wird nicht auf seine Kosten kommen. Eine generelle didaktische Ausrichtung fehlt.  Es gibt bereits unzählige hervorragende Bücher über die fiesta de toros,   über  Kulturgeschichte, gesellschaftlich-soziale Bedeutung und den gesamten Technik- sowie Regel-Komplex des Tauromachie-Rituals. Im Anhang wird allerdings eine Auswahl davon zu finden sein, ebenso wie auch ein Glossar zu den im Text kursiv gedruckten Fachbegriffen.

Jahr für Jahr werden wissenschaftliche oder literarische Werke auf dem Gebiet der „Welt der Stiere“ neu verlegt. Schon Ernest Hemingway sprach von mehr als zweitausend spanischen Büchern und Broschüren, auf die er sich bei der Veröffentlichung seines inzwischen klassischen Werkes „Death in the Afternoon“, 1932, beziehen konnte.

Unter diesem Titel eroberte Hemingways Buch den englisch-sprachigen Raum. Seine Übersetzung in viele Sprachen verschaffte der Kunst der Tauromachie globale Verbreitung und Bedeutung. Auch im Deutschen wurde Hemingways „Tod am Nachmittag“  zum Synonym für das Ritual des Stierkampfs. Die Übersetzung erschien 1957, also in einer Zeit, als sich der deutsche Spanien-Tourismus gerade in seinen Anfängen befand.

Aber schon davor, im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert hatten sich Reisende in Spanien für die fiesta de toros interessiert, sich entweder von den „blutigen Volksfesten“ abgestoßen oder vom exotischen Reiz angezogen gefühlt. Als „Stiergefechte“ bezeichnete man um diese Zeit noch die Konfrontation von Mensch und Tier. Kulturkritiker setzten sich mit dem „anstößigen“ Thema auseinander.  Literaten, Musiker und Maler ließen sich in ihren Kunstwerken sowohl vom folkloristischen Element wie vom tödlichen Mythos inspirieren. „Carmen“, nach Prosper Merimées Novelle von Georges Bizet vertont, ist eines der bekanntesten Beispiele.

Der Stier als Symbol fand Eingang in die Sprache des Alltags und wurde zum Sinnbild dunkler Kräfte in kulturellen und politischen Auseinandersetzungen. Für die einen repräsentierte er ungebundene Lebenskraft und Leidenschaft, für die anderen dagegen eine den Zivilisationsprozess bedrohende Macht.

Die Autorin geht davon aus, dass ihre potentiellen Leser sich mit einem gewissen Bestand an Vorbehalten dem „prekären“ Thema nähern. Unvoreingenommenheit oder gar  Neutralität sind nicht vorauszusetzen, wissbegierige Neugier einem   befremdenden kulturellen Phänomen gegenüber schon eher. Bei den meisten Menschen, die sich nicht von vornherein einem möglichen inneren Konflikt durch totale Abwehr verschließen,  bleibt der Zugang zur Welt der Tauromachie solange ein theoretischer, ein intellektueller, bis sie zum ersten Mal mit dieser Welt, dem mundo de los toros,   in unmittelbaren Kontakt kommen. Sei es, dass sie als Zuschauer direkt  an einer corrida de toros teilnehmen – oder indirekt an deren medialen Übertragung. Die Erschütterung über das, was gesehen und erlebt wird, greift tief ins Unbewusste, man kann sich ihrer nicht erwehren. Viele Menschen treffen daraufhin die  Entscheidung, sich von dieser als grausam empfundenen Welt in Zukunft fernzuhalten; sie wählen die Eindeutigkeit. Andere, trotz ihrer ebenso tiefen Erschütterung, vermeiden eine prinzipielle  Tabuisierung dieser Welt. Das Befremdende, das Unverstandene in Form des Archaischen hat sie erfasst  und beschäftigt sie innerlich weiter.Diejenigen, die sich von dem Geschehen einfangen und  berühren lassen,   fühlen sich  in  einen Zustand innerer Zerrissenheit versetzt. 

„Eine Barbarei!“, so schreibt  Kurt Tucholsky nach dem Besuch einer Corrida in Südfrankreich. „Aber wenn sie morgen wieder ist: ich gehe wieder hin“. Die Ambivalenz, die Tucholsky 1927 in seinem Pyrenäenbuch kurz und handfest auf den Begriff bringt, wird von allen geteilt, die sich dem kultischen Charakter der  Interaktion zwischen Mensch und Stier nicht verschließen, die sich affizieren lassen. Obwohl die ambivalenten Gefühle den meisten Stierkampfanhängern weitgehend unbewusst bleiben, spielt der abgewehrte Zwiespalt zwischen ethischen Überzeugungen und dem mystischen und irrationalen Reiz des archaischen Todesrituals immer wieder eine Rolle im Erleben der aficionados a los toros, wie der folgende Text zeigt.

Das spanische Wort  afición beinhaltet mehr als Affinität, es ist mit  Zuneigung und Liebe zu übersetzen. Die afición a los toros ist die Liebe zu den Stieren. Die aficionados wenden sich  dem Objekt ihrer Liebe immer wieder neu zu, können nicht davon lassen, folgen einer Art von Wiederholungszwang.  Manche Beobachter gehen noch weiter in ihrer Beurteilung: „Die Liebenden wie die aficionados sind keine Gelegenheitskonsumenten, sondern Süchtige“, heißt es in einer 1986 erschienenen kulturanalytischen Interpretation der corrida de toros, auf die im folgenden Text noch näher eingegangen wird.

Phänomene der Sucht lassen sich bei allen Menschen beobachten, die sich mit Leidenschaft einer Sache, einer „Liebhaberei“  hingeben.

Die sich zu ihrer afición  bekennende Verfasserin, nahm die beschriebenen Gefühle der Ambivalenz ebenso wie die zuletzt erwähnten  „süchtigen   Anteile“ staunend an der eigenen Person wahr. Sie  beschreibt ihre ganz persönliche Annäherung an die spanische  fiesta de toros, ihre neugierigen Versuche, eine  komplexe fremde Welt zu durchdringen und sich allmählich anzueignen. Sie setzt an   konkreten Erfahrungen an und vermeidet eine abstrakte Diskussion.

 „Material“ ihrer Überlegungen liefern zum einen ihre eigenen, subjektiven Erfahrungen, und zum anderen ihre Konzentration vor allem auf den exemplarischen Lebenslauf eines Toreros, der mit seiner Karriere seit über einer Dekade den „mundo taurino“   in Atem hält: 

José Antonio Morante Camacho „Morante de la Puebla“

Dass die Autorin gerade diesen Torero in den Fokus ihrer Abhandlung stellt, ist weniger in der „Berühmtheit“, der Prominenz,  dieser faszinierenden Figur begründet. Seiner Kunst, seinem irrationalen Zauber – dem „embrujo“ -   liegen die „morantistas“ zu Füßen, zu denen sich auch die Autorin zählt. Die besondere Aufmerksamkeit, die sie dem sensiblen Künstler-Torero  widmet, ist seiner biographischen Entwicklung geschuldet, die stärker als vergleichbare professionelle Werdegänge Einblick in die Psychodynamik einer Torero-Persönlichkeit bietet. Sein einzigartiger Werdegang steht im Fokus der Reflexionen der Autorin, die mit hinreichender Distanz auf psychoanalytischem Hintergrund Bewunderung und Respekt für die „fiesta más culta“ am Beispiel Morante de la Pueblas zum Ausdruck bringt.

Die Autorin ist überzeugt: Im Stierkampf wird ein Drama inszeniert, das sich in seiner Irrrationalität jeder rationalen Erklärung entzieht. Einer durchrationalisierten Gesellschaft muss dieses kulturelle Phänomen daher zunehmend zum Ärgernis werden. Man könnte sagen: Unsere Gesellschaft ist dabei, sich zu Tode aufzuklären.